Casual Instagram, TikTok Now, BeReal: Diese Trends und Plattformen machen deutlich, dass Authentizität in den sozialen Medien gegenwärtig eine Renaissance erlebt. User:innen wollen keine perfekt inszenierten Profile mehr sehen, sondern wenden sich immer mehr Creator:innen zu, die offen und ehrlich über alles reden, was sie beschäftigt – und sich dabei auch ohne Make-Up und Filter zeigen. Ein frischer Wind, auf den viele nur gewartet haben. Doch ist dieses authentische Auftreten in den sozialen Medien überhaupt real?
Als Instagram 2010 in den App Stores erschien, war die App vor allem eins: eine Möglichkeit, persönliche Fotos aus dem eigenen Leben mit Freund:innen zu teilen, sich so mit ihnen auszutauschen und insbesondere sich selbst zu inszenieren. Heute ist von diesem ursprünglichen Gedanken nicht mehr viel übrig. Wer 2023 über die Plattform spricht, kommt an FaceTune, Photoshop und Werbung nicht vorbei.
Farblich abgestimmte Feeds, sorgsam geplante Outfits und atemberaubende Urlaubsfotos sind mittlerweile zum Sinnbild für soziale Medien geworden; die visuellen Inszenierungen haben echte, authentische Momentaufnahmen abgelöst.
Social Media hat sich zu einer Welt entwickelt, in der alles perfekt und aufregend ist, die neidisch macht, zu Vergleichen aufruft und vielen User:innen das Gefühl vermittelt, sie und ihr Leben seien niemals gut genug.
Doch es leiden nicht nur die Nutzer:innen unter dem erhöhten Druck, sich selbst zu präsentieren und der stetigen Möglichkeit, sich mit dem scheinbar “perfekten” Leben der Anderen zu vergleichen. Auch Instagram sieht sich mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Vom erbitterten Konkurrenzkampf mit TikTok bis hin zur vielfach geteilten Petition “Make Instagram Instagram Again”, die sich gegen die vielen Neuerung des sozialen Netzwerkes sträubt – besonders viele junge Nutzer:innen wandern zu anderen Plattformen ab.
Die Folge: Das Wachstum der einst unangefochtenen Plattform verlangsamt sich, denn was einst im Zentrum des Netzwerkes stand, hat sich mit der Zeit verloren: der echte Austausch mit Freunden und Familie findet über die Plattform kaum noch statt.
Aus der wachsenden Unzufriedenheit mit den übermäßig inszenierten Inhalten formierte sich schon 2020 in den sozialen Medien, angetrieben von User:innen auf TikTok, ein neuer Instagram Trend: Casual Instagram, also das Posten von Bildern, die möglichst aus dem Alltag gegriffen, authentisch und spontan sind. Der dazugehörige Hashtag #casualinstagram erzielte mehr als 30 Millionen Aufrufe und inspirierte tausende Nutzer:innen dazu, ihre Content Strategie auf Instagram zu ändern.
Ein Vorbild hierbei: Emma Chamberlain. Die Influencerin, die mit ihrem YouTube Channel bekannt wurde, inspirierte User:innen mit ungestellten, authentischen Bildern – und das, obwohl die Unternehmer- und Podcasterin über ein Millionenpublikum verfügt. Auf Emmas Instagram Account finden sich neben professionellen Fotoshootings eine Menge scheinbar ungefilterter Eindrücke aus ihrem Leben. Egal ob verschwommene Fotos oder Photo Dumps, die Influencerin zeigt auf ihren Channels ihren Alltag und verdeutlicht so, wer sie wirklich hinter den Kulissen ist. Trotz des Erfolges scheint sie auf dem Boden geblieben.
Sich authentisch und nahbar zu zeigen ist ein Trend, den nicht nur zahlreiche User:innen nachahmen, sondern der mit dem Aufstieg von BeReal seinen Höhepunkt erreicht und sich gegen alles richtet, was Applikationen wie Instagram und TikTok sonst oft ausmacht. Das Konzept der gehypten App wurde prompt auch von TikTok adaptiert. Mit TikTok Now brachte das Unternehmen sein eigenes "Bereal"-Pendant auf den Markt. Seit September 2022 konnten User:innen hier schnell und einfach völlig alltägliche Momente aus ihrem Leben teilen – und das in Echtzeit. Der TikTok Ableger konnte sich nicht durchsetzen, die Funktion wurde wieder eingestellt. Trotzdem sind diese Entwicklungen ein Spiegel dessen, was Wissenschaftler:innen die “neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen” nennen. Das Konzept einer echten, glaubwürdigen Authentizität erlebt in der Gegenwart eine Renaissance.
Doch wie authentisch können solche öffentlichen Inszenierungen wirklich sein? Wer diese Frage beantworten will, muss zunächst einen Blick darauf werfen, was Authentizität denn wirklich ausmacht. Authentisch, so der Duden, ist das, was real existent, den Tatsachen entsprechend und glaubwürdig ist. Authentisch ist demnach, wer kongruent mit seinen Werten, Motiven und Glaubenssätzen handelt – und das über verschiedene soziale Rollen und Situationen hinweg. Übersetzt in die Sprache der sozialen Medien heißt das: Wer als glaubwürdig und wahrhaftig wahrgenommen werden will, muss einer inhaltlichen Kongruenz folgen und zu seinen eigenen Meinungen, Interessen und auch Fehlern stehen.
Der individuelle Stil und die eigene Kreativität spielen so auch bei der Zusammenarbeit mit Brands eine große Rolle. Wer zu viel oder für Marken außerhalb der eigenen Wertegemeinschaft wirbt, verliert schnell an Vertrauen – und das in einer Branche, die genau auf diesem vertrauensvollen Austausch basiert. So wird Authentizität nicht nur zu einem sozialen und kulturellen Wert, sondern auch zu ökonomischem Kapital. Nur wer authentisch wirkt, schafft es, Follower:innen zu begeistern und so auch die eigenen Einnahmen zu steigern. Nach diesen Erkenntnissen stellt sich also die Frage: Wie real ist diese Authentizität, wenn sie für finanziellen Erfolg und gelungenes öffentliches Auftreten maßgeblich verantwortlich ist?
Diese Fragen stellen auch User:innen der Plattformen. So bezeichnet ein Creator in einem Video Essay “Casual Instagram” als eine “noch größere Performance”. Die kritischen Kommentare unter dem Video zeigen: Follower:innen sind sich der Inszenierung ihrer Vorbilder bewusst – und unterscheiden zwischen öffentlicher Persona und dem realen Menschen. Das Bewusstsein, dass die Außendarstellung der Creator:innen wohl immer ein Stück Inszenierung erhält, ist bei vielen User:innen der Plattformen nicht nur vorhanden, sondern tief in ihre Wahrnehmung der Creator:innen integriert.
Inszenierungen in den sozialen Medien stehen in der Kritik. Doch ist das überhaupt fair? Können wir jemals wirklich wir selbst sein, wenn wir uns nach außen präsentieren?
Antworten liefert ein Blick in die Soziologie. Denn wer in einer Gesellschaft lebt, so die Theorie, der:die nimmt immer gewisse soziale Rollen ein – und das nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im Alltag. Nur so können wir uns in der sozialen Umwelt erfolgreich orientieren und uns gerichtet nach Werten und Normen angepasst verhalten. Dass man in verschiedenen Lebensbereichen anders agiert, ist also ganz normal: Im Berufsalltag ist ein anderes Verhalten gefragt als in der eigenen Familie. Mit dem Chef geht man anders um als mit dem eigenen Kind. Private und öffentliche Lebensbereiche unterscheiden sich maßgeblich in Anforderungen an die eigene Person und somit auch an die jeweilige Rolle, die man in verschiedenen Situationen ein- oder auch annimmt.
Öffentliche Profile in den sozialen Medien überschreiten de facto immer den eigenen Privatbereich und gehen aus diesem Grund permanent mit anderen Rollenerwartungen einher. Dass eine echte Authentizität – wie die im eigenen Privatleben – nicht gänzlich in diesen zu erreichen ist, ist demnach ganz natürlich. Das Internet ist und bleibt Öffentlichkeit und Bühne. Doch heißt das, dass der Versuch, der eigenen Person treu zu bleiben, gänzlich sinnlos ist? Zumindest die psychologische Forschung hat darauf eine Antwort. Denn wer daran arbeitet, sich selbst authentisch darzustellen, tut nicht nur dem eigenen beruflichen Erfolg einen Gefallen, sondern auch der mentalen Gesundheit. So korreliert Authentizität in den sozialen Medien mit einer höheren Lebenszufriedenheit. Ein Grund also, es zumindest zu versuchen.
Die sozialen Medien haben sich verändert: Heute sind die Netzwerke hauptsächlich Entertainment-Plattformen, wir konsumieren Content statt Leuten zu folgen, der persönliche “social” Faktor bleibt immer mehr aus.
Die übermäßigen Inszenierungen der Influencer:innen haben zum Teil negative Auswirkungen auf User:innen der Plattformen und können Selbstwert und Stimmung senken.
Als Gegenbewegungung hat sich der “Casual Instagram”-Trend etabliert. User:innen posten unter dem gleichnamigen Hashtag authentische Fotos, die aus dem Alltag gegriffen scheinen und besonders real wirken sollen.
Was auf den ersten Blick real wirkt, scheint auf den zweiten Blick jedoch auch nur mit Vorsicht zu genießen zu sein: Denn wer in der Öffentlichkeit und in jeglicher Weise mit Menschen agiert, nimmt immer eine bestimmte soziale Rolle ein.
Auch, wenn ein vollständig authentisches Auftreten in den sozialen Medien nicht möglich ist: Wer mit sich und seinen Werten kongruent handelt und er:sie selbst ist, berichtet von einer größeren Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Ein Grund dafür, sich dem Ideal eines authentischen Auftretens in den Netzwerken anzunähern.