Es ist März, die Temperaturen steigen allmählich, die Vögel zwitschern vor acht Uhr in der Früh und die ersten Sonnenstrahlen kitzeln in der Nase. Doch über dem kommenden Frühling liegt ein dunkler Schleier; oder besser gesagt, ein blauer Schleier und dieser nennt sich Alternative für Deutschland. Die Medienlandschaft berichtet über Demos gegen rechts, Hunderttausende Teilnehmende und Hashtags wie #niewiederistjetzt – aber auch über Zitate wie: “Echte Männer sind rechts. Und als echte Männer wollen wir echte Frauen.” (Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl. Quelle: zdf heute online). Mediale Inhalte, die sich natürlich auch in den sozialen Netzwerken widerspiegeln. Die Kommentarspalten der AfD füllen sich mit blauen Herzen und Zuspruch – und das drei Monate vor den kommenden Europawahlen. Es wird also höchste Zeit, etwas zu unternehmen.
Die AfD schlägt alle anderen Parteien in der Followerschaft auf Social Media. Ob TikTok, YouTube oder Facebook, die Partei läuft den anderen den Rang ab und nimmt rund 41,04 Prozent der gesamten Audience auf Social Media, die Partei-Profilen folgen, ein. Über 2,45 Millionen Menschen folgen den Partei-Profilen der AfD – im Schnitt mehr als viermal so viele wie den Grünen, der CDU und Co.
Die AfD dominiert nach wie vor auf allen Social Media Kanälen außer Instagram. Doch auch dort ist sie in den vergangenen Monaten am stärksten gewachsen. Aus einem Anteil von einst 41,04 Prozent an der Gesamt-Audience auf Social Media, nimmt die AfD nun 47,26 Prozent ein. Sechs Monate und ein Anstieg um mehr als sechs Prozent. Noch erschreckender als diese Tatsache allein ist der Umstand, dass alle anderen Parteien – ja, alle – am Gesamtanteil einbüßen. Es gibt keine Gewinner:innen auf Social Media. Außer die AfD. Mittlerweile folgen den populistischen Partei-Profilen mehr als 3,27 Millionen Menschen, Tendenz steigend.
Nicht nur die Zahlen der Followerschaft, Views und Likes sind besorgniserregend. Das Sentiment in den Kommentarspalten der AfD und der Spitzenpolitikerin Alice Weidel ist positiv gegenüber den Ansichten der Alternative für Deutschland und negativ gegenüber so ziemlich allen anderen Parteien. Blaue Herzen soweit das Auge reicht. Die Themen, die hier diskutiert werden, sind nicht neu: Einwanderungspolitik, Klimapolitik, soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftspolitik und Verschwörungstheorien. Kritik an der aktuellen Regierung des Landes, Kritik an den (öffentlich-rechtlichen) Medien, Zuspruch für die oppositionelle Alternative (Quelle: Intermate Technologie).
Was den Populist:innen dabei zusätzlich zugutekommt, ist die Abwesenheit anderer Parteien und Politiker:innen. Auf TikTok und YouTube nimmt die AfD nämlich bis zu 80 Prozent der Gesamt-Audience, die Parteien und Politiker:innen folgen, ein – und das schlichtweg, weil viele andere Parteien kaum bis gar keine Präsenz zeigen. Ohne Präsenz auch keine Haltung – und die fehlt derzeit vor allem in der politischen Social Media Landschaft seitens der demokratischen Parteien. Von den aktuellen Spitzenkandidat:innen und Fraktionsvorsitzenden der FDP und der Grünen fehlt jede Spur. Ausschließlich Ricarda Lang ist aktiv auf TikTok; mit etwa 10.6k Zuschauer:innen.
Die CDU- und CSU-Vorsitzenden kommen gerade einmal auf 1.671 Follower:innen. Zum Vergleich: Alice Weidel verzeichnet 271.3k, ihr Kollege Ulrich Siegmund ganze 378.9k Follower:innen.
Mit dem Hashtag #ReclaimTikTok machen Aktivist:innen und Creator:innen darauf aufmerksam, wie die Populist:innen die Plattform für die Verbreitung von haltlosen Thesen und populistischen Inhalten nutzen und damit erfolgreich sind, weil es bislang kaum Gegenwind in dieser Größenordnung gab. Alle anderen Parteien gaben klein bei und die Followerschaft und auch die Wählerschaft der AfD stiegen kontinuierlich an. Doch nun scheint endlich Licht am Ende des Feeds.
Am 09. Juni dieses Jahres finden die Europawahlen statt. Wieder werden 96 Europaabgeordnete gewählt. Mit Blick auf den Kalender wird also schnell deutlich, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Wähler:innen von sich als Partei zu überzeugen. Apropos Wähler:innen: Dieses Jahr dürfen alle wählen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben. Diese junge Altersgruppe wird mit Hinblick auf die zu erwartende Wahlbeteiligung von hohem Interesse sein. Gerade sie gilt es also zu adressieren, und zwar dort, wo sie sich die meiste Zeit eben aufhalten – auf TikTok.
Bislang wurde die Plattform von Accounts der AfD, ihrer Politiker:innen und Anhänger:innen dominiert. Wie viele davon letztendlich wirklich echt und keine Bots sind, bleibt unklar. Fest steht allerdings, dass die zu großen Teilen rechtsradikale Partei potenziell mehr als 3,27 Millionen Menschen auf Social Media erreicht.
Aktivist:innen, Politiker:innen und Creator:innen setzen sich mit #ReclaimTikTok nun dafür ein, die Flut an rechtsextremem Gedankengut zu stoppen. Klimaaktivistin Luisa Neubauer fordert ihre Community beispielsweise auf, sich stark zu machen – nicht nur für das Klima, sondern vor allem gegen die AfD, gegen rechts.
Auch außerhalb von TikTok äußern sich Politiker:innen zu den erschreckenden Entwicklungen auf Social Media. Hannah Neumann, Mitglied des Europäischen Parlaments, Friedens- und Konfliktforscherin, teilte auf ihrem X-Account einen Beitrag zu dem Hashtag. Auch Katarina Barley zeigt sich in YouTube Shorts auf dem SPD-Kanal und spricht über die Oberhand der AfD auf Social Media.
Am 18. März 2024 entschied sich zusätzlich Gesundheitsminister Karl Lauterbach dazu, einen TikTok Kanal zu gründen – mit seinen zwei ersten TikToks, die er während und nach der Teilnahme an der Sendung “Hart aber fair” aufnahm. Sein erstes Video, in dem er seinen Auftritt auf der Plattform als “Revolution auf TikTok” bezeichnet, erhielt direkt über 224k Aufrufe. Kurz daraufhin schloss sich auch der Kanzler an: Anfang April tritt das @teambundeskanzler auf TikTok auf. Das erste Video erntet direkt eine Million Views und die Kommentarspalte ist voll – viele Marken beteiligen sich sofort am Diskurs. Die SPD kommentiert: “Wir freuen uns. Schaun wir mal was wird”. Der Kanzler antwortet: “...was wird.”
Und genau das denkt wohl auch gerade ganz Deutschland.
Während bereits die meisten Politiker:innen und Parteien auf Instagram und Facebook vertreten sind, bleibt TikTok die Wüste der politischen Profile. Bestehen womöglich noch immer Vorurteile gegenüber der Plattform und den User:innen?
Im letzten Update von TikTok selbst verkündete die Plattform stolze 28.7 Millionen monatlich aktive Nutzer:innen alleine in Deutschland. Dabei ist vor allem die Altersverteilung der User:innen spannend. Etwa 37 Prozent sind zwischen 18 und 24 Jahren, rund 27 Prozent sind 25 bis 34 Jahre alt, 17 Prozent zwischen 35 und 44 Jahren und 19 Prozent über 45 Jahre.
Die jüngste Zielgruppe der Plattform scheint auf den ersten Blick für viele noch die Generation zu sein, die sich Lipsync-Videos und Tanz-Tutorials anschaut, doch die Vorurteile gegenüber der Gen Z sind schon lange überholt. Nicht zu vergessen, dass es genau jene User:innen zu erreichen gilt, wenn man beispielsweise an die vielen Erstwähler:innen denkt.
Schauen wir uns die Followerschaft der AfD (@afdfraktionimbundestag) auf TikTok an, wird noch einmal deutlicher, um welche Zielgruppe die Parteien hier konkurrieren (sollten).
Die Gen Z ist schon lange nicht mehr 16 Jahre alt und tanzt im Kinderzimmer zu Songs von Jason Derulo. Natürlich sind auch Teenager immer noch Teil der Plattform, genauso wie sie Teil unserer Gesellschaft sind. Auf TikTok lassen sich jedoch Communities jeder Art, jedes Alters, jeder Herkunft und mit allen möglichen Interessen finden. Es ist also auch für Parteien besonders wichtig, nicht nur Zielgruppen anhand von demographischen Daten ausfindig zu machen, sondern die Interessengruppen innerhalb der Zielgruppe herauszufiltern.
Die Communities auf TikTok sind vielschichtig – Nachhaltigkeit, Bildung, Sozialwesen, Gesundheit und Wirtschaft – so komplex wie eine Gesellschaft selbst sind auch die Themen auf Social Media. Denn soziale Medien sind der Spiegel des Kollektivs. Subkulturen, Gruppierungen mit Überzeugungen und Werten finden nicht nur im echten Leben zusammen, sondern auch online, oder vor allem auch online. Wo sonst finden sich Gleichgesinnte schneller als im Netz?
Betrachtet man die genannten Interessengruppen erneut, scheint die ein oder andere Kanalstrategie für die etablierten Parteien bereits auf der Hand zu liegen.
Politik auf Social Media scheint eine Gratwanderung. Aus Angst vor möglichen Fehltritten allerdings gar nicht auf den Plattformen, die ganze Gesellschaften begleiten und prägen, zu agieren, ist auch keine Lösung. Beispiele haben bereits gezeigt, politische Kommunikation in der Öffentlichkeit kann auch nach hinten losgehen. Frau Lambrecht, Frau Klöckner, Herr Laschet und Herr Scholz (die Liste ließe sich noch weiterführen) können davon wohl Lieder singen.
Andere fühlen sich in den sozialen Medien hingegen schon sehr wohl. Markus Söder begeistert rund 800k Menschen auf Social Media. Nicht nur mit rein politischer Kommunikation, sondern auch mit privaten Einblicken in das Leben eines Spitzenpolitikers. Das Format #söderisst ist überall bekannt, denn es zeigt den privaten Markus, der zum Mittag gerne Schnitzel mit Kartoffelsalat und natürlich Weißwurst, Brezeln und süßen Senf zum Frühstück isst. Eine Debatte um Tierwohl, Veganismus und Klimapolitik führen wir an dieser Stelle nicht – dafür gäbe es ja beispielsweise auch eine Partei, die sich diesen Faktoren annehmen könnte.
Müssen nun alle Politiker:innen auf Instagram zeigen, was sie essen? Natürlich nicht. Bitte nicht. Soziale Netzwerke sind schon lange nicht mehr nur ein Ort für soziale Interaktionen und die Verbindung von Menschen, die sich kennen und folgen. Vielmehr geht es heute um Entertainment und die Suche nach Inhalten, die interessieren und begeistern. Das bedeutet auch keinesfalls, dass politische Akteur:innen nun die neuesten Tänze lernen oder Lemon-Pasta kochen müssen. Die Rezipient:innen kommen durchaus auf die Plattformen, um sich zu informieren und sich auszutauschen.
Als Rechtsanwalt teilt beispielsweise @herranwalt auf seinem TikTok Kanal Tipps und Wissen zu juristischen Themen und greift tagesaktuelle Ereignisse in seinen Videos auf. Über 6,7 Millionen Menschen folgen ihm dort – und das ganz ohne Tanzeinlage. Trotzdem ist der Account des Juristen keineswegs langweilig, ganz im Gegenteil. In Sketches spielt er gleich mehrere Rollen, schlüpft in verschiedene Charaktere und zeigt so Situationen auf, in denen er seinen juristischen Rat zum Besten gibt.
Ein weiterer, absoluter Best Case im Bereich Education sind die Social Media Kanäle der Tagesschau. Kumuliert verzeichnen die Accounts über 6,3 Millionen Follower:innen. Die Videos sind kurz, zeigen Menschen, die Sachverhalte und Zusammenhänge erklären, sind informativ und dynamisch. Also eigentlich alles, was ein gutes, social-natives Asset braucht, um erfolgreich zu sein.
Natürlich unterscheidet sich politische Kommunikation von den meisten Inhalten, die wir täglich auf TikTok und Co. sehen. Allerdings muss dies keineswegs bedeuten, dass sie deswegen nicht gut ankommt. Ganz im Gegenteil. Politische Inhalte ziehen auch auf Social Media – nur eben jetzt gerade noch gerne mal in die falsche Richtung. Wichtig ist, dass sie so aufbereitet werden, dass sie für die breite Masse auch zugänglich sind. Einfach erklärt, dynamisch und an die jeweilige Community angepasst; die Tagesschau macht es vor, wie komplexe Themen auch für soziale Medien aufbereitet werden können.
Im Grunde gilt erstmal Folgendes: Nachziehen geht nur, wenn man auch partizipiert. Bei einem Marathon den ersten Platz zu belegen, erfordert immerhin auch, überhaupt daran teilzunehmen. Von der Couch aus wird es wohl ein Ding der Unmöglichkeit, diesen zu gewinnen. Also liebe Parteien, fangt erstmal an, das wäre bereits ein großer Schritt in die richtige Richtung!
Die AfD dominiert noch immer die Social Media Landschaft. Vor allem auf TikTok sind sowohl Partei als auch Politiker:innen beinahe konkurrenzlos.
Einzelne Politiker:innen ziehen nach: Am 18.03. veröffentlichte Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine ersten TikToks.
Bildung spielt eine große Rolle auf TikTok, erfolgreiche Accounts wie jener von der Tagesschau zeigen, wie Social Media für informative Inhalte genutzt werden kann.
Unter dem Hashtag #ReclaimTikTok machen sich vor allem Aktivist:innen für eine Gemeinschaft gegen rechts stark.
In drei Monaten steht die Europawahl an, es bleibt also nicht mehr viel Zeit für die Politiker:innen, auf Social Media aktiv zu werden, um diese wichtige, einzigartige Zielgruppe zu erreichen.